Armenische Denkmäler im Berg-Karabach-Konflikt in der Schusslinie

Die UNESCO wird beschuldigt, die Augen vor der Zerstörung von Kulturstätten verschlossen zu haben, während der erbitterte Kampf zwischen Aserbaidschan und Armenien im umstrittenen Gebiet andauert

Dorian Batycka / 26. Oktober 2020 / erschienen in:  „The Art Newspaper“


Kulturerbe- und archäologische Stätten sind erneut bedroht, da die Kämpfe zwischen Armenien und Aserbaidschan um das umstrittene Gebiet Berg-Karabach erneut aufgeflammt sind. Die jüngste Eskalation erfolgt, nachdem ein von den US-Behörden vermittelter Waffenstillstand offenbar innerhalb von wenigen Stunden gebrochen wurde. Zwei frühere, von Russland vermittelte Feuerpausen wurden ebenfalls nicht eingehalten.

Seit Beginn der letzten Auseinandersetzungen am 27. September starben mehrere Hundert Menschen und Tausende wurden in dem als heftigster Zusammenstoß zwischen den beiden Ländern seit mehr als 25 Jahren bezeichneten Konflikt vertrieben.

Berg-Karabach, bekannt als Republik Arzach, liegt innerhalb der Grenzen von Aserbaidschan, hat jedoch eine ethnisch armenische Mehrheit und steht seit 1994 unter der Kontrolle von armenischen Truppen. Das Gebiet beherbergt zahlreiche Denkmäler von religiöser und ziviler Bedeutung. Denkmäler und verschiedene Kunstobjekte, einschließlich der Überbleibsel von antiken Siedlungen, von denen einige mittlerweile Ziel von Angriffen wurden.

Berg-Karabach liegt innerhalb Aserbaidschans, hat jedoch eine große armenische Bevölkerung ©Illustration von Katherine Hardy

Berg-Karabach liegt innerhalb Aserbaidschans, hat jedoch eine große armenische Bevölkerung ©Illustration von Katherine Hardy

Am 8. Oktober teilte ein Sprecher des armenischen Verteidigungsministeriums in den sozialen Medien mit, dass die Ghazentschezoz-Kathedrale des Heiligen Retters in Schuschi, eine der größten armenischen Kirchen weltweit, durch Aserbaidschan bombardiert wurde. Er postete Bilder von zertrümmerten Kirchenbänken, einem großen Loch an der Decke und von Geröll, das in dem Gebäude aus dem 19. Jahrhundert verstreut war. Aserbaidschan verleugnete prompt die Bombardierung und ein Sprecher des Verteidigungsministeriums sagte, dass „die Informationen über Schäden an der Kirche in Schuschi nichts mit den Aktivitäten der aserbaidschanischen Armee zu tun hätten“. Aserbaidschanische Streitkräfte würden „keine historischen, kulturellen und insbesondere religiöse Stätten ins Visier nehmen“, fügte er hinzu.

Währenddessen wurde die 2.000 Jahre alte hellenistisch-armenische Stadt Tigranakert, einem Bericht des Archäologen Hamlet Petrosyan vom 3. Oktober zufolge, ebenfalls von der aserbaidschanischen Artillerie beschossen. „Die am besten erhaltene Stadt der hellenistisch-armenischen Kultur“ im Kaukasus „liegt in der Zone intensiver Kriegsaktivität“, teilte das Team von Petrosyan in einer Erklärung mit und stellte fest, dass sie mehrmals beschossen wurde. Weder Armenien noch Aserbaidschan gaben eine Verlautbarung über diese Stätte heraus.

Museen unterstützen das Militär

In Aserbaidschan unterstützen die Museen offen die Kriegsanstrengungen. Am 7. Oktober kündigten das Museum für nationale Kunst und das Nationale Teppichmuseum, beide in Baku ansässig, an, dass sie mit einer Spende die aserbaidschanischen Streitkräfte unterstützen würden. „Die glorreichen Söhne und Töchter der Heimat, die an und hinter der Frontlinie ihre ganze Kraft sammeln, sind bereit, auf dem Schlachtfeld gegen den Feind zu kämpfen, um die besetzten aserbaidschanischen Gebiete zu befreien und die territoriale Integrität des Landes wiederherzustellen, wie es unsere Bürgerpflicht ist“, sagte das Nationale Museum für Kunst in einer Presseerklärung und kündigte die Spende von 3.000 Manat (1.800 US$) an.

„Alle 4.000 kulturellen Stätten von Berg-Karabach sind der Gefahr von ernsthafter Zerstörung ausgesetzt“ – Simon Maghakyan, armenischer Politikwissenschaftler

Letztes Jahr führte Simon Maghakyan die Zerstörung des armenischen Kulturerbes in Nachitschewan durch Aserbaidschan in der Online-Publikation „Hyperallergic“ detailliert auf – einem anderen umstrittenen Gebiet, mit 89 mittelalterlichen Kirchen, 5.840 Chatschkaren (filigran behauenen Kreuzsteinen) und 22.000 Grabsteinen.

Maghakyan sagt jetzt: „Man kann mit Recht davon ausgehen, dass alle 4.000 Kulturerbestätten von Berg-Karabach der Gefahr ausgesetzt sind, zerstört zu werden“, einschließlich der historischen Stadt Amaras und des Grabmals von St. Grigoris aus dem 5. Jahrhundert und des Klosters Dadivank aus dem 13. Jahrhundert, das im ersten Jahrhundert als Kapelle gegründet worden war.

Am 9. Oktober 2020 rief der armenische Kulturminister Arayik Harutyunyan die UNESCO auf, die Bombardierung der Ghazantschezoz-Kathedrale zu verurteilen. „Die vorsätzliche Zerstörung des kulturellen Erbes stellt ein Kriegsverbrechen dar. Die gezielte Beschießung von Kulturerbestätten ist -insbesondere zu Kriegszeiten – durch eine Reihe von internationalen Abkommen, einschließlich der Haager Konvention der UNESCO, strengstens verboten. Leider wurde Aserbaidschan, als es zwischen 1997 und 2006 das gesamte armenische Kulturerbe in Nachitschewan auslöschte, nicht angemessen verurteilt. Dieses Schweigen führte zur Ausradierung von 89 mittelalterlichen Kirchen, 5.840 Chatschkaren und 22.000 Grabsteinen.

Er fügte hinzu: „Wir fordern die UNESCO und alle anderen relevanten Organisationen auf, die anhaltende Aggression Aserbaidschans und die zielgerichtete Beschießung von Kulturerbestätten und anderer kultureller und ziviler Anlagen eindringlich und unmissverständlich zu verurteilen. Wir sind überzeugt, dass die rechtzeitigen Aktionen der UNESCO und anderer führender Weltorganisationen die weitere Zerstörung von Kulturdenkmälern und ziviler Anlagen in Arzach aufhalten werden.“

Blick durch ein geborstenes Fenster aus einem Gebäude in der Nähe der Kathedrale von Schuschi, der Ghazantschezoz-Kathedrale, nachdem durch einen aserbaidschanischen Doppeltreffer am 11. Oktober 2020 ein Teil des Daches zerstört wurde. Foto: Celestino Arce/NurPhoto

Am selben Tag gab die UNESCO eine Erklärung auf ihrer Website heraus, in welcher sie die jüngste Gewalt auf beiden Seiten verurteilte: „Die UNESCO drückt ihre tiefe Besorgnis angesichts der anhaltenden Eskalation von Gewalt in der Konfliktzone Berg-Karabach aus, die zu hohen zivilen Opfern führt und Schäden an der zivilen Infrastruktur – einschließlich von Schulen, kulturellen und religiösen Stätten – verursacht und ebenso die Sicherheit von Journalisten bedroht.“

Maghakyan beschuldigt die UNESCO, die Augen vor der Zerstörung verschlossen zu haben und sagt: „sie hat angesichts der Aktionen Aserbaidschans zum kulturellen Genozid komplizenhaft geschwiegen.“ Er glaubt, dass die UNESCO aus zweierlei Gründen sehr langsam reagiert hat: Aserbaidschans finanzielle Beiträge an die finanziell angeschlagene Institution (Aserbaidschan spendete 5 Millionen USD, nachdem die USA 2013 ihre Finanzierung eingestellt hatte) und dessen Verbindungen zu zwei früheren Generaldirektoren, Kōichirō Matsuura und Irina Bokova.

Im Jahre 2017 enthüllte der „Guardian“, dass Kalin Mitrev, der Ehemann von Bokova, im Zusammenhang mit einer PR-Firma eine Beratungsgebühr von mindestens 425.000 € (500.000 USD) annahm, die geschätzte 3 Milliarden USD an diverse einflussreiche Gruppen und Einzelpersonen weitergeleitet hat, um Werbung für die aserbaidschanische Regierung auf internationaler Ebene zu betreiben. Bokova konnte für eine Stellungnahme nicht erreicht werden. 2017 teilte Mitrev dem „Guardian“ jedoch mit, dass die Zahlungen für eine rechtmäßige Unternehmensberatung bestimmt gewesen seien und bestritt jedwede Kenntnis über die Verbindungskanäle bzw. über die ursprüngliche Quelle der Finanzmittel gehabt zu haben.

Derweil arbeitete Matsuura als Treuhändler für das staatlich gelenkte Baku International Multiculturalism Centre und wurde im Juli dieses Jahres mit dem diplomatischen Dienstorden ausgezeichnet. Matsuura konnte für eine Stellungnahme nicht erreicht werden.

Die UNESCO lehnte es ab, sich zu diesen Vorwürfen zu äußern und verwies uns auf ihre Erklärung, in der sie die Gewalt verurteilte.

2019 fand das Treffen des UNESCO-Welterbekomitees in Baku statt. Bei dem Treffen bat Ernesto Ottone Ramirez, stellvertretender Direktor der UNESCO für Kultur, beide Seiten, den Ermittlern der UNESCO die Einreise nach Berg-Karabach zu gestatten. Der Wunsch blieb jedoch unerfüllt.

Nach der jüngsten Eskalation der Feindseligkeiten veröffentlichte eine Gruppe prominenter Intellektueller und Wissenschaftler, darunter Noam Chomsky, Gayatri Chakravorty Spivak, Tariq Ali, Viken Berberian, Judith Herman und die Philosophen Cornel West und Seyla Benhabib, am 16. Oktober einen offenen Brief im „Los Angeles Review of Books“, in dem sie zu einem Waffenstillstand aufrief, um in Berg-Karabach „das Blutvergießen und das menschliche und kulturelle Gemetzel zu beenden“. „Wir erinnern Sie daran, dass die Orte der Bombeneinschläge archäologische Stätten beinhalten, wie die antike armenische Stadt Tigranakert.“, schrieben sie.
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Übersetzung aus dem Englischen
von Arman Simonian

Quelle:
https://www.theartnewspaper.com

PDF auf Englisch:
Armenian monuments in line of fire in Nagorno-Karabakh conflict _ The Art Newspaper